Kapitel Sieben
1
Etwas an Nancy Gordons Geschichte war eindeutig falsch. Es war wie ein Buch mit einer tollen Handlung und einem unbefriedigenden Ende. Außerdem gab es Ungereimtheiten. So, wie Nancy es dargestellt hatte, waren sie, Grimsbo und Turner begnadete Polizeibeamte. Wenn sie davon überzeugt gewesen wären, dass Lake sechs Frauen umgebracht und Waters dafür ans Messer geliefert hatte, wie konnten sie den Fall dann so einfach auf sich beruhen lassen? Und warum sollte Lake so plötzlich eine gutgehende Kanzlei aufgeben und verschwinden, wenn er der Meinung war, jeden Verdacht ausgeräumt und alles überstanden zu haben? Hatte Lake jemals seine romantischen Neigungen Nancy gegenüber weiterverfolgt? Sie hatte kein weiteres Treffen mehr erwähnt. Schließlich gab es da noch eine Frage, die Page vergessen hatte zu stellen. Was war mit den Frauen? Nancy Gordon hatte nichts darüber gesagt, was mit den vermissten Frauen war.
Während er wartete, dass auf der Polizeiwache in Hunters Point jemand das Telefon abnahm, schrieb Page alle diese Punkte auf einen Zettel. Drohende Gewitterwolken zogen aus dem Westen heran. Page hatte den Regen mehr als satt. Vielleicht hatten diese Wolken ein Einsehen und zogen über die Stadt hinweg, bevor sie ihre Last abluden. Vielleicht gewährten sie der Sonne eine kleine Lücke, um hindurch zu scheinen.
»Roy Lenzer.«
Page legte seinen Stift auf den Block.
»Detective Lenzer, mein Name ist Alan Page. Ich bin Bezirksstaatsanwalt von Multnomah County. Das liegt in Portland, Oregon.«
»Was kann ich für Sie tun?« fragte Lenzer freundlich.
»Gibt es bei Ihnen eine Beamtin namens Nancy Gordon?«
»Selbstverständlich, aber sie ist in Urlaub und wird nicht vor einer Woche oder so zurückerwartet.“
»Können Sie sie beschreiben?«
Lenzers Beschreibung passte genau auf die Frau, die Page in seiner Wohnung besucht hatte.
»Kann ich Ihnen sonst irgendwie helfen?« fragte Lenzer.
»Vielleicht. Wir stecken hier in einer merkwürdigen Sache. Drei Frauen sind verschwunden. Jedes Mal haben wir einen Zettel und eine Rose gefunden. Detective Gordon hat mir berichtet, dass sie es vor ungefähr zehn Jahren mit einem identischen Fall in Hunters Point zu tun hatte.«
»Ich glaube, ich habe mal etwas darüber gehört, aber ich bin erst seit fünf Jahren hier. Ich komme aus Indiana. Ich kann Ihnen da nicht viel sagen.«
»Was ist mit Frank Grimsbo und Wayne Turner? Das waren die beiden anderen Beamten, die damit zu tun hatten.«
»Bei uns gibt es keinen Grimsbo oder Turner mehr.«
Page hörte es donnern und schaute aus dem Fenster. Die Fahne auf dem Gebäude gegenüber schlug wild hin und her. Es sah aus, als würde sie sich gleich vom Mast losreißen.
»Ich nehme doch an, dass es eine Möglichkeit gibt, an eine Kopie der Akten zu kommen? Der Mann, dem man damals die Verbrechen anlastete, heißt Henry Waters...«
»W-A-T-E-R-S?«
»Richtig. Er wurde bei der Festnahme erschossen. Ich glaube, es handelt sich um sechs ermordete Frauen. Eine von ihnen hieß Patricia Cross. Dann waren da noch Melody Lake, ein kleines Mädchen, und Sandra Lake, ihre Mutter. An die Namen der anderen kann ich mich nicht erinnern.«
»Wenn das vor zehn Jahren passiert ist, dann sind die Akten im Archiv. Ich kümmere mich darum und gebe Ihnen Nachricht, wenn ich etwas gefunden habe. Wie ist Ihre Adresse und die Telefonnummer?«
Page gab ihm beides durch, als Randy Highsmith, sein Stellvertreter, die Tür für William Tobias, den Chef der Polizei, und Ross Barrow, der die Untersuchungen im Fall Schwarze Rose leitete, aufhielt. Page bedeutete ihnen, sich zu setzen, und legte auf.
»Vielleicht stehen wir im Fall der vermissten Frauen vor einem Durchbruch«, begann Page und erzählte Nancy Gordons Geschichte von den Ereignissen in Hunters Point.
»Bevor man die Leiche in Waters' Haus gefunden hat, war der Hauptverdächtige Peter Lake, der Ehemann eines der Opfer«, kam Page zum Schluss. »Es gab genug Indizien, die darauf hindeuteten, dass Lake Waters den Schwarzen Peter zugeschoben hat. Kurz nachdem der Fall offiziell abgeschlossen war, ist Lake verschwunden.
Vor zwei Tagen hat Nancy Gordon eine anonyme Mitteilung mit den Worten erhalten Frauen in Portland, Oregon, sind AUF EWIG UNVERGESSEN. Die Anfangsbuchstaben der Worte waren großgeschrieben, ganz so, wie unser Freund es macht. Dabei lag eine Fotografie von Martin Darius, wie er gerade ein Motelzimmer verlässt. Martin Darius könnte Peter Lake sein. Nancy Gordon glaubt, dass er unser Mörder ist.«
»Ich kenne Martin Darius«, bemerkte Tobias skeptisch.
»Jeder kennt Darius«, entgegnete Page, »doch was wissen wir wirklich über ihn?«
Page schob die Fotografie von Darius und den Zeitungsausschnitt mit Lakes Bild über den Schreibtisch. Barrow, Tobias und Highsmith beugten sich darüber.
»Mann«, bemerkte Highsmith und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, AI«, meinte Tobias. »Das Zeitungsbild ist nicht allzu gut.«
»Nancy Gordon hat mir Lakes Fingerabdrücke zum Vergleich gegeben. Können Sie das überprüfen, Ross?«
Barrow nickte und nahm die Karte von Page entgegen.
»Es fällt mir schwer, das zu glauben«, erklärte Tobias. »Ich möchte gern persönlich mit der Beamtin sprechen.«
»Ich werden sie herbitten. Hören Sie sich die Geschichte aus ihrem Mund an«, sagte Page, ohne seine Zweifel auszusprechen, denn er wollte, dass man Nancy Gordon unvoreingenommen zuhörte.
Page wählte die Nummer des Motels und bat darum, mit Nancys Zimmer verbunden zu werden. Während der Angestellte am Empfang es klingeln ließ, lehnte sich Page in seinem Stuhl zurück.
»Nicht da? Nun, das ist interessant. Wissen Sie, wann sie weg ist? Ja, verstehe. Gut, richten Sie ihr bitte aus, dass sie sofort Alan Page anrufen soll, wenn sie wieder zurück ist.«
Page hinterließ seine Nummer und legte auf. »Sie ist letzte Nacht so gegen ein Uhr angekommen, aber jetzt ist sie nicht da. Möglich, dass sie Frühstücken gegangen ist.«
»Was haben Sie jetzt vor, AI?« wollte Highsmith wissen.
»Ich will, dass Darius rund um die Uhr beobachtet wird, für den Fall, dass Nancy Gordon recht hat.«
»Das lässt sich machen«, sagte Barrow.
»Sorgen Sie dafür, dass das gute Leute machen, Ross! Ich möchte nicht, dass Darius Verdacht schöpft. Randy, überprüfen Sie Darius! Ich möchte so schnell wie möglich seinen Lebenslaufhaben.«
Highsmith nickte.
»Sobald sich Gordon meldet, informiere ich Sie.«
Highsmith führte Tobias und Barrow hinaus und schloss die Tür. Page überlegte, ob er noch mal im Lakeview anrufen sollte, aber es war seit seinem ersten Anruf kaum Zeit vergangen. Er drehte sich zum Fenster. Draußen schüttete es.
Warum waren ihm die Ungereimtheiten in Nancy Gordons Geschichte gestern Nacht nicht aufgefallen? Hatte es an ihr gelegen? Sie hatte den Anschein erweckt, als habe sie sich gerade noch unter Kontrolle, als wanderte sie auf einem schmalen Grat. Auf ihn hatte sie den Eindruck gemacht, bis zum Zerreißen angespannt zu sein. Er hatte kaum die Augen von ihren abwenden können, als sie gesprochen hatte, aber das hatte nichts mit körperlicher Anziehung zu tun. Etwas anderes hatte ihn an ihr fasziniert: ihre Leidenschaftlichkeit, ihre Verzweiflung. Jetzt, nachdem sie weg war, konnte er klarer denken. Wenn sie in seiner Nähe war, brach sie in seine Gedanken ein wie der Blitz, der jetzt über dem Fluss herunter zuckte.
2
Betsy blickte sich in dem Restaurant nach allein sitzenden Frauen um, während sie der Bedienung zwischen einer Reihe von Tischen hindurch folgte. Eine große, athletisch gebaute Frau in einer gelben Bluse und einem marineblauen Kostüm, die in einer Nische an der Wand saß, fiel ihr auf. Als Betsy näher kam, stand die Frau auf.
»Sie müssen Nora Sloane sein«, sagte Betsy, als sie sich die Hände gaben. Nora Sloane hatte ein blasses Gesicht und blassblaue Augen. Ihr rotes Haar war kurz geschnitten. Betsy bemerkte ein paar graue Strähnen. Sie schätzte, dass sie etwa das gleiche Alter hatte wie sie selbst.
»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Mrs. Tanenbaum.«
»Nennen Sie mich einfach Betsy. Sie verstehen es wirklich, Leute neugierig zu machen. Als Sie heute Morgen am Telefon von einer Einladung zum Mittagessen sprachen, hatten Sie schon gewonnen.«
Nora lachte. »Ich bin froh, dass Sie es so leicht nehmen, denn ein kostenloses Essen ist alles, was Sie von mir bekommen werden. Ich schreibe diesen Artikel ins Blaue hinein. Die Idee dazu ist mir gekommen, als ich über Ihren Prozess gegen die Anti-Abtreibungsliga für die Arizona Republic berichtete.«
»Sie kommen aus Phoenix?«
»Eigentlich aus New York. Mein Mann nahm eine Stelle in Phoenix an, doch ein Jahr, nachdem wir umgezogen waren, ließen wir uns scheiden. Ich bin nie wild auf Arizona gewesen, besonders jetzt nicht mehr, weil mein Exmann da lebt, und als ich über Ihren Prozess berichtete, habe ich mich in Portland verliebt. Vor einem Monat habe ich meinen Job aufgegeben und bin hierher gezogen. Ich lebe von meinen Ersparnissen und sehe mich nach einer Arbeit um. Inzwischen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich genauso gut heute wie morgen mit diesem Artikel beginnen kann. Ich habe Gloria Douglas, einer Redakteurin beim Pacific West Magazin, das Projekt vorgestellt; sie ist sehr interessiert, will aber nichts entscheiden, bevor sie nicht eine Rohfassung gesehen hat.«
»Von was genau wird der Artikel handeln?«
»Prozesse mit Frauen. Und Sie und Ihre Fälle sollen im Mittelpunkt stehen.«
»Ich hoffe, Sie stellen mich nicht zu sehr in den Vordergrund.“
»He, nun werden Sie mal nicht zu bescheiden«, meinte Nora lächelnd. »Bis vor kurzem waren weibliche Anwälte nur für Testamentseröffnungen oder Scheidungen gut. Sachen, die man als Weiberkram bezeichnen konnte. Mein Standpunkt ist, dass Sie die Vorhut einer neuen Generation von Frauen sind, die sich mit Mordprozessen beschäftigen und Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe herausschlagen. Bereiche, die traditionell den Männern vorbehalten waren.«
»Klingt interessant.«
»Freut mich, dass Sie so denken, denn die Leute wollen über Sie lesen. Sie sind der beste Aufhänger für meine Story.«
»Was muss ich machen?«
»Nicht viel. Im Wesentlichen sollen Sie mir über den Hammermill Prozess und andere Fälle erzählen. Und wenn möglich, möchte ich mit Ihnen zusammen ins Gericht gegen.«
»Das scheint in Ordnung zu sein. Ich denke, wenn ich über meine Fälle spreche, hilft es auch mir, die richtige Einschätzung zu finden. Während der Prozesse stecke ich immer zu sehr in der Sache drin.«
Der Kellner kam, und Nora bestellte einen Salat und ein Glas Weißwein. Betsy orderte Thunfisch mit Nudeln, ließ aber den Wein aus.
»Was wollen Sie heute von mir?« fragte Betsy, sobald der Kellner gegangen war.
»Ich denke, wir sollten über Ihr Leben sprechen. Ich habe den Artikel im Time Magazin gelesen, fand ihn aber sehr oberflächlich. Daraus habe ich nicht erfahren können, was Sie zu dem gemacht hat, was Sie heute sind. Waren Sie auf der High School zum Beispiel ein Cheer Leader?«
»Mein Gott, nein!« lachte Betsy. »Ich war so schüchtern. Ein richtiges Mauerblümchen.«
Nora lächelte. »Das glaube ich gern. Sie waren zu groß, stimmt's? Ich hatte das gleiche Problem.«
»Ich überragte jeden. In der Grundschule lief ich mit niedergeschlagenen Augen und gekrümmtem Rücken herum und wünschte, ich wäre unsichtbar. Auf der Mittelschule wurde es noch schlimmer, denn da kamen noch die dicken Brillengläser und die Zahnspange dazu. Ich habe wie Frankenstein ausgesehen.«
»Wann haben Sie ihr Selbstbewusstsein entwickelt?«
»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt eins habe. Ich meine, ich weiß, dass ich meine Arbeit gut mache, aber ich frage mich immer, ob es nicht noch besser geht. Ich denke, in meinem letzten Jahr auf der High School habe ich begonnen, an mich selbst zu glauben. Ich war eine der besten in meiner Klasse, die Zahnspange war weg, meine Eltern hatten mir Kontaktlinsen gekauft, und die Jungs begannen sich für mich zu interessieren. Als ich dann meinen Abschluss in Berkeley machte, ging ich schon viel mehr aus mir heraus.«
»Sie haben Ihren Ehemann während Ihres Studiums kennengelernt, stimmt das?«
Betsy nickte. »Wir leben jetzt aber getrennt.«
»Oh, das tut mir leid.«
Betsy hob die Schultern. »Ich möchte wirklich nicht über mein Privatleben sprechen. Muss ich das unbedingt?«
»Nein, wenn Sie nicht wollen. Ich schreibe meinen Artikel nicht für die Klatschspalte.«
»Gut, denn ich möchte nicht über Rick sprechen.«
»Ich verstehe Sie gut. Ich habe in Phoenix das gleiche durchgemacht. Ich weiß, wie schwer das sein kann. Sprechen wir über etwas anderes!«
Der Kellner brachte das Essen, und Nora stellte Betsy noch ein paar Fragen über ihre Kindheit, während sie aßen.
»Sie haben nach dem Examen nicht sofort eine eigene Kanzlei aufgemacht, oder?« wollte Nora wissen, nachdem der Kellner die Teller abgeräumt hatte.
»Nein.«
»Und warum nicht? Es läuft doch alles hervorragend.«
»Das war reines Glück«, antwortete Betsy und errötete ein wenig. »Ich habe damals nicht daran gedacht, mich auf eigene Füße zu stellen. Mein Examen war in Ordnung, aber nicht gut genug für eine der großen Kanzleien. Ich habe vier Jahre für den Staatsanwalt im Bereich Umweltschutzrecht gearbeitet. Mir hat die Arbeit gefallen, aber ich habe gekündigt, als ich mit Kathy schwanger wurde.“
»Wie alt ist sie?«
»Sechs Jahre.«
»Wie sind Sie wieder in Ihren Beruf hineingekommen?«
»Als Kathy in die Vorschule kam, wurde es mir zu Hause zu langweilig. Rick und ich haben darüber gesprochen und beschlossen, dass ich zu Hause arbeiten könnte, so dass es keine Probleme mit Kathy gäbe. Margaret McKinnon, eine Freundin aus der Studienzeit, ließ mich ihr Konferenzzimmer benutzen, wenn ich mich mit Klienten treffen musste. Ich habe nicht viele Fälle gehabt. Einige kleinere Strafsachen, einfache Scheidungsfälle, gerade genug, um beschäftigt zu sein.
Dann bot mir Margaret ein fensterloses Büro von der Größe einer Besenkammer an. Mietfrei im Austausch für zwanzig Stunden Arbeit im Monat. Ich stöhnte über die Bedingungen, doch Rick sagte, das ginge in Ordnung. Er meinte, es wäre gut für mich, wenn ich aus dem Haus käme, solange ich die Anzahl meiner Fälle so klein halten würde, dass ich Kathy vom Kinderhort abholen und bei ihr bleiben könnte, wenn sie einmal krank wäre. Sie wissen, die Mutterpflichten. Na egal, es klappte ganz gut, und ich übernahm einige schwerere Straffälle und ein paar strittige Scheidungen, die mehr Geld brachten.«
»Der Peterson-Prozess war Ihr großer Durchbruch, stimmt's?«
»Ja. Eines Tages saß ich herum, ohne viel zu tun zu haben, da wurde ich gefragt, ob ich den Fall Grace Peterson übernehmen wolle. Ich wusste nicht viel über die Problematik von geprügelten Frauen, aber ich erinnerte mich daran, Dr. Lenore Walker in einer Talk Show darüber sprechen gehört zu haben. Sie ist auf diesem Gebiet eine Expertin. Das Gericht bewilligte das Geld, und Dr. Walker kam aus Denver, um ein Gutachten über Grace abzugeben. Es war ziemlich schlimm, was ihr Mann ihr angetan hatte. Ich habe ein behütetes Leben geführt, möchte ich sagen. Niemand in meinem Umfeld hat jemals solche Dinge gemacht.«
»Niemand, von dem Sie es erfahren hätten.«
Betsy nickte traurig. »Niemand, von dem ich es erfahren hätte. Wie auch immer, der Prozess erweckte eine Menge Aufmerksamkeit. Einige Frauengruppen unterstützten mich, und die Presse stand hinter mir. Nach dem Freispruch gingen meine Geschäfte wesentlich besser. Dann kam Andrea Hammermill aufgrund des Urteils im Peterson-Prozess auf mich zu.«
Der Kellner brachte den Kaffee, und Nora schaute auf ihre Uhr. »Sie sagten, dass Sie um halb zwei eine Verabredung haben, ja?«
Betsy warf einen Blick auf ihre eigene Uhr. »Schon zehn nach eins? Ich habe wirklich die Zeit ganz vergessen.«
»Gut. Ich habe gehofft, Sie wurden von dem Projekt genauso begeistert sein wie ich.«
»Bin ich auch. Rufen Sie mich doch an, damit wir uns schon bald weiter unterhalten können.«
»Prima! Das werde ich tun. Und vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Das war wirklich nett von Ihnen.«
3
Randy Highsmith schüttelte den Regen von seinem Schirm und legte ihn auf den Wagenboden unter das Armaturenbrett, während Alan Page aus dem Parkhaus fuhr. Der Schirm hatte bei dem strömenden Regen nicht viel geholfen, denn Highsmith war total durchnässt und fror.
Highsmith hatte etwas Übergewicht, sah intelligent aus, war überzeugter Konservativer und der beste Ankläger im Büro des Bezirksstaatsanwalts, Page eingeschlossen. Während er auf der Georgetown Universität Jura studierte, hatte er sich in Party Archer verliebt, die Angestellte eines Kongressabgeordneten. Dann verliebte er sich in die Stadt Portland, als er bei Pattys Familie zu Besuch war. Als Pattys Abgeordneter sich nicht mehr zur Wahl stellte, zogen die Frischverheirateten nach Portland, wo Party eine Beratungsfirma eröffnete und Randy sich vom Büro des Bezirksstaatsanwalts von Multnomah County anheuern ließ.
»Erzählen Sie mir von Darius!« forderte Page ihn auf, als sie auf dem Freeway waren.
»Er ist vor acht Jahren nach Portland gekommen. Er hatte Geld genug, um sich am Anfang etwas aufzubauen und lieh sich dann weiteres. Darius machte sich einen Namen und vergrößerte sein Vermögen, indem er auf die Wiederbelebung der City von Portland setzte. Sein erster großer Erfolg war die Couch Street Boutique. Für 'nen Appel und 'n Ei kaufte er einen Straßenzug mit heruntergekommenen Häusern und errichtete ein Einkaufszentrum. Dann veränderte er das Umfeld der Boutique und machte es zu einer der angesehensten Gegenden von Portland, indem er die renovierten Häuser zu niedrigen Mieten an hochklassige Geschäfte und teure Restaurants pachtete. Sobald die Geschäfte bessergingen, stiegen auch die Mieten. Die oberen Geschosse der meisten Gebäude wurden in Eigentumswohnungen verwandelt. Das ist seine Strategie. Kaufe alle Gebäude in einer Slumgegend, setze einen Anziehungspunkt hinein und dann saniere das Umfeld. In letzter Zeit richtete er seine Aktivitäten auf die Einkaufszentren in den Vororten, Eigentumswohnungen und was noch dazugehört.
Vor zwei Jahren hat Darius Lisa Ryder geheiratet, die Tochter eines Richters am obersten Gerichtshof von Oregon, Victor Ryder. Ryders ehemalige Kanzlei PARISH, MARQUETTE & REEVES betreut ihn in juristischer Hinsicht. Ein paar Freunde, die dort angestellt sind, haben mir im Vertrauen gesagt, dass Darius brillant und skrupellos ist. Die eine Hälfte der Firma ist damit beschäftigt, seine Weste sauber zu halten. Die andere Hälfte muss sich um die Prozesse kümmern, wenn die erste versagt.«
»Was heißt skrupellos? Moralisch oder wie?«
»Nichts Illegales. Aber er hat seine eigenen Gesetze und kümmert sich keinen Deut um die Gefühle anderer. Zum Beispiel hat er in diesem Jahr einen Straßenzug mit historischen Gebäuden drüben im Nordwesten der Stadt gekauft, um sie abzureißen und Apartmenthäuser hinzustellen. Verschiedene Bürgerinitiativen gingen dagegen vor. Sie erreichten eine einstweilige Verfügung und versuchten, die Häuser unter Denkmalschutz stellen zu lassen. Ein cleverer junger Anwalt von PARISH, MARQUETTE & REEVES brachte den Richter dazu, die Verfügung zu widerrufen. Darius schickte noch in der Nacht Bulldozer dorthin und ließ die Häuser dem Erdboden gleich machen, noch bevor irgendjemand wusste, was überhaupt vorging.«
»Ein Kerl wie der muss doch Dreck am Stecken haben.“
»Das Belastendste, was ich in Erfahrung bringen konnte, ist ein Gerücht, dass Darius eng mit Manuel Ochoa befreundet ist, einem mexikanischen Geschäftsmann, der bei der Rauschgiftbehörde im Verdacht steht, Geld für ein südamerikanisches Drogenkartell zu waschen. Ochoa hat Darius möglicherweise Geld für ein großes Projekt geliehen, das den Banken zu risikoreich war.«
»Was ist mit seiner Vergangenheit?« wollte Page wissen, als sie auf den Parkplatz des Lakeview Motels abbogen.
»Er hat keine. Das würde dafür sprechen, dass er mit Lake identisch ist.«
»Haben Sie nach Zeitungsberichten gesucht?«
»Mehr noch. Ich habe mit dem bekanntesten Wirtschaftsjournalisten von Oregon gesprochen. Darius gibt keine Auskünfte über sein Privatleben. Alles, was man weiß, deutet quasi darauf hin, dass er bis vor acht Jahren überhaupt nicht existent war.«
Page fuhr auf den Parkplatz vor dem Motelbüro. Die Uhr im Armaturenbrett zeigte fünf Uhr sechsundzwanzig.
»Bleiben Sie im Wagen! Ich frage, ob Nancy zurück ist.«
»In Ordnung, aber da ist noch etwas, was Sie wissen sollten.« Page hielt inne, die Wagentür halb geöffnet. »Wir haben eine Verbindung zwischen Darius und den verschwundenen Frauen gefunden.«
Page schloss die Tür wieder, während Highsmith ihn angrinste.
»Ich habe das Beste bis zum Schluss aufgehoben. Tom Reiser, der Mann von Wendy Reiser, arbeitet für Parish, Marquette. Er ist der Anwalt, der den Richter dazu gebracht hat, die einstweilige Verfügung zurückzunehmen. Letzte Weihnachten waren die Reisers auf einer Feier in der Villa von Darius. Diesen Sommer waren sie zu einer Party eingeladen, mit der die Eröffnung eines Einkaufszentrums gefeiert wurde, genau zwei Wochen, bevor die erste Frau verschwand. Reiser hat geschäftlich viel mit Darius zu tun.
Larry Farrars Finanzierungsbüro hat Darius als Klienten. Er und seine Frau Laura waren ebenfalls auf der Eröffnungsfeier. Er hat viel für Darius getan.
Und schließlich Victoria Miller; ihr Mann, Rüssel, arbeitet für BRAND, GATES & VALCROFT. Das ist die Werbeagentur, die für Darius' Baugesellschaft arbeitet. Rüssel Miller hat vor kurzem die Verantwortung für den Darius-Etat übernommen. Sie waren auf seiner Yacht und haben ihn zu Hause besucht. Auch sie waren auf der Eröffnungsfeier.«
»Unglaublich. Hören Sie, ich möchte eine Liste der Frauen, die zu der Feier geladen waren. Wir müssen Bill Tobias und Barrow alarmieren.«
»Habe ich schon gemacht. Sie setzen eine zweite Gruppe auf Darius an.«
»Gute Arbeit. Nancy Gordon kann die Schlüsselfigur in diesem Fall werden.«
Highsmith schaute zu, wie Page in das Büro des Motels ging. Ein rundlicher Mann in einem karierten Hemd stand hinter dem Empfangsschalter. Page zeigte dem Manager seine Marke und stellte eine Frage. Highsmith sah, wie dieser den Kopf schüttelte. Page sagte offenbar noch etwas. Der Manager verschwand in ein Hinterzimmer und kam mit einem Regenmantel wieder. Er nahm einen Schlüssel von einem Haken an der Wand. Page folgte dem Mann nach draußen und gab Highsmith ein Zeichen.
Highsmith warf die Wagentür zu und rannte zu dem Überbau des ersten Stocks, der Schutz vor dem Regen bot. Nancy Gordons Zimmer war um die Ecke herum im Erdgeschoß des Motels. Highsmith kam dazu, als der Manager an die Tür klopfte und Nancys Namen rief. Es erfolgte keine Antwort. Das Fenster lag zum Parkplatz hin, die grünen Vorhänge waren geschlossen. Ein Schild »Bitte nicht stören« hing am Türknopf.
»Miss Gordon!« rief der Mann noch einmal. Er wartete einen Augenblick, dann zuckte er mit den Schultern. »Soweit ich weiß, ist sie den ganzen Tag nicht dagewesen.«
»In Ordnung«, sagte Page. »Lassen Sie uns rein!«
Der Manager öffnete die Tür mit seinem Schlüssel und trat zur Seite. Der Raum lag im Dunkeln, aber jemand hatte das Licht im Badezimmer angelassen, das jetzt einen fahlen Schein in das leere Zimmer warf. Page schaltete das Licht ein und sah sich um. Das Bett war unbenutzt. Nancys Koffer lag geöffnet auf der Ablage neben dem Kleiderschrank. Page ging ins Badezimmer. Eine Zahnbürste, Zahnpasta und Make-up befanden sich auf der Konsole des Waschbeckens. Page zog den Duschvorhang zur Seite. Eine Flasche mit Shampoo stand in der Dusche. Page verließ das Bad.
»Sie hat ihre Waschsachen ausgepackt. Eine Flasche mit Shampoo steht in der Dusche. Sie gehört nicht zum Motelinventar. Sieht aus, als hätte sie eine Dusche nehmen wollen, sobald sie ausgepackt hatte.«
»Dann hat sie jemand dabei unterbrochen«, bemerkte Highsmith und deutete auf die halboffene Schublade des Kleiderschranks. Ein paar Kleidungsstücke lagen darin, während andere sich noch im Koffer befanden.
»Sie hatte eine Aktentasche dabei, als sie mich besuchte. Sehen Sie die hier irgendwo?«
Die zwei Männer durchsuchten den Raum, ohne fündig zu werden.
»Sehen Sie mal hier!« rief Highsmith, der neben dem Nachttisch stand. Page schaute sich den Notizblock mit dem Zeichen des Motels an, der neben dem Telefon lag.
»Sieht aus wie eine Wegbeschreibung und eine Adresse.«
»Nicht anfassen. Ich will die Spurensicherung hier haben. Bis wir Genaueres wissen, behandeln wir das hier wie einen Tatort.«
»Es gibt keine Anzeichen für einen Kampf.«
»Bei den verschwundenen Frauen haben wir auch keine gefunden.«
Highsmith nickte. »Ich rufe vom Motelbüro aus an, falls Fingerabdrücke auf dem Telefon hier sein sollten.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo das ist?« fragte Page, als er die Notiz auf dem Block noch einmal gelesen hatte.
»Ja, das weiß ich. Erinnern Sie sich, was ich Ihnen über die Häuser erzählt habe, die Darius niedergewalzt hat? Das scheint mir die Adresse zu sein.«
»Was ist jetzt dort?«
»Ein großer freier Platz. Als die Nachbarn sahen, was Darius angerichtet hatte, rasteten sie aus. Es hat Proteste gegeben, Klagen wurden eingereicht, doch Darius baute unbeeindruckt weiter. Drei Wohnhäuser hat er hochgezogen, aber irgendjemand hat sie angesteckt und abgebrannt. Seitdem ruhen die Bauarbeiten.“
»Die Sache gefallt mir nicht. Wie konnte jemand wissen, wo sich Nancy aufhielt? Ich habe ihr das Lakeview vorgeschlagen.«
»Sie könnte jemanden angerufen haben.«
»Nein. Ich habe mich bei dem Manager erkundigt. Von hier wurden keine Gespräche geführt, außerdem kannte sie niemanden in Portland. Deshalb ist sie zu mir gekommen. Sie hat angenommen, dass die Person, die ihr den anonymen Brief geschrieben hat, sie am Flughafen abholen würde, aber dort hat sich niemand mit ihr in Verbindung gesetzt. Ein Bericht über mich und meine Anschrift war ebenfalls in dem Brief. Wenn sie jemanden sonst gekannt hätte, dann hätte sie die Nacht dort verbracht.«
»Dann muss ihr jemand vom Flugplatz zu Ihnen gefolgt sein und dann weiter bis hierher.«
»Das ist anzunehmen.«
»Was ist, wenn die Person gewartet hat, bis Nancy im Motel war, und sie dann angerufen und zu dem Baugelände bestellt hat.«
»Oder die Person kam hierher, schlug Nancy vor mitzukommen oder brachte sie mit Gewalt von hier fort.«
»Nancy Gordon ist Polizeibeamtin«, warf Highsmith ein. »Ich meine, sie wird genug Verstand haben, um vorsichtig zu sein.«
Page dachte an Nancy; daran, dass ihre Nerven zum Zerreißen gespannt waren, dachte an das Zittern ihres Körpers.
»Sie ist hinter etwas her, Randy. Nancy hat mir erzählt, dass sie nur deshalb bei der Polizei geblieben ist, um Lake zu kriegen. Sie arbeitet seit zehn Jahren an dem Fall und träumt schon nachts davon. Sie ist bestimmt clever, aber möglicherweise nicht, wenn es um diese Sache geht.«
Das Baugelände war größer, als Page erwartet hatte. Die Häuser, die Darius abgerissen hatte, waren entlang einer Anhöhe gebaut gewesen, von wo man den Columbia River überblickte. Das Gelände umfasste einen steilen Abhang, der zum Fluss hinunter führte. Ein hoher Maschendrahtzaun umschloss das Gelände. Im Zaun war ein Schild »DARIUS BAUGESELLSCHAFT - BETRETEN VERBOTEN« angebracht. Page und Highsmith, unter ihre Regenschirme geduckt, die Kragen der Regenmäntel hochgeschlagen, musterten das Vorhängeschloss am Tor. Wolken verdeckten in kurzen Abständen den Mond. Der strömende Regen machte die Nacht noch dunkler.
»Was meinen Sie?« fragte Highsmith.
»Gehen wir am Zaun entlang, vielleicht gibt es noch einen anderen Eingang. Es deutet nichts darauf hin, dass sie hier hineingegangen ist.«
»Ich habe ganz neue Schuhe an«, beschwerte sich Highsmith.
Page schaute am Zaun entlang, ohne darauf zu antworten.
Das Gelände war während der Bauarbeiten geradezu in einen Acker verwandelt worden, keine Spur von Rasen mehr. Page spürte, wie der Matsch unter seinen Schuhen quatschte. Er spähte durch den Zaun, während er daran entlang ging. Ab und zu leuchtete er mit seiner Taschenlampe hinein. Der größte Teil des Geländes war leer und von Bulldozern plattgewalzt. An einer Stelle stand eine Hütte, an einer anderen konnte er im Licht seiner Taschenlampe verbrannte Holzreste sehen, die einmal das Gerüst eines der Appartementhäuser von Darius gewesen sein mussten.
»AI, kommen Sie mal mit der Lampe her«, rief Highsmith, der vorausgegangen war. Er deutete auf eine Stelle im Zaun, die aufgeschnitten und zur Seite gedrückt war. Page rannte zu Highsmith hinüber. Ein kalter Windstoß traf ihn ins Gesicht. Page drehte sich für einen Moment zur Seite und zog den Mantelkragen höher.
»Sehen Sie hier!« sagte Page. Er stand unter einer alten Eiche und richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe auf den Boden. An der Stelle, an der sie standen, sah man Reifenspuren im Schlamm. Die Blätter der Eiche schützten etwas vor dem Regen, so dass die Spuren noch deutlich zu erkennen waren. Page und Highsmith folgten ihnen vom Zaun weg.
»Jemand ist von der Straße herunter über das Feld in diesen Dreck gefahren«, stellte Page fest.
»Aber das muss nicht unbedingt heute Nacht gewesen sein.«
Die Spuren führten bis zur Straße und verschwanden dann. Wahrscheinlich hatte der Regen den Schlamm vom Asphalt gewaschen.
»Ich nehme an, dass der Fahrer rückwärts bis zum Zaun gefahren ist, AI. Es gibt keine Anzeichen, dass er gewendet hat.«
»Warum rückwärts? Warum ist er überhaupt zum Zaun gefahren und das Risiko eingegangen, im Dreck steckenzubleiben?«
»Was war in dem Wagen?«
Page nickte und stellte sich vor, wie Nancy Gordon zusammengeschnürt im Kofferraum eines Autos lag.
»Gehen wir«, meinte Page und bewegte sich wieder in Richtung der Öffnung im Zaun. Er glaubte zu wissen, dass sie dort war, begraben in der weichen Erde.
Highsmith folgte Page durch das Loch im Zaun. Als er sich hindurch duckte, blieb er mit dem Mantel an einem vorstehenden Drahtstuck hängen. Bis er sich befreit hatte, war Page schon ein ganzes Stück voraus und von der Dunkelheit fast verschluckt. Nur der zitternde Lichtstrahl der Taschenlampe zeigte an, wo er war.
»Haben Sie irgendwelche Spuren gesehen?« fragte Highsmith, als er Page erreicht hatte.
»Vorsicht!« rief Page und griff nach Highsmiths Mantel. Sofort blieb Highsmith stehen. Page richtete die Taschenlampe nach unten. Sie standen am Rand einer tiefen Grube, die wohl für das Fundament eines Hauses ausgehoben worden war. Schlammige Wände führten nach unten zum Grund, der in der Dunkelheit nicht zu erkennen war. Plötzlich kam der Mond heraus und tauchte den Boden der Grube in ein fahles Licht. Die bucklige Oberfläche warf Schatten über Steine und Dreckhaufen.
»Ich gehe hinunter«, beschloss Page und begann mit dem Abstieg. Er tastete sich seitlich an der Wand nach unten, lehnte sich dagegen und bohrte seine Schuhe in den Schlamm. Auf halbem Wege rutschte er aus, fiel auf die Knie und glitt im weichen Matsch nach unten. Eine herausstehende Wurzel, an der er sich festhielt, stoppte ihn. Sie war aber wohl von der Schaufel eines Bulldozers gekappt worden und löste sich, doch Page hatte inzwischen schon mit den Füßen wieder Halt gefunden.
»Alles in Ordnung?« rief Highsmith in den Wind.
»Ja. Kommen Sie herunter, Randy, jemand hat vor kurzem hier gegraben!“
Highsmith stieß einen Fluch aus, begann dann aber mit dem Abstieg. Als er unten angekommen war, lief Page vorsichtig über den schlammigen Boden. Alles, was in den Lichtstrahl der Taschenlampe kam, musterte er intensiv. Der Boden sah aus, als sei er vor kurzem umgegraben worden. Page untersuchte das Gelände, so gut es in der Dunkelheit möglich war.
Plötzlich legte sich der Wind, und Page glaubte, ein Geräusch zu hören. Etwas rutschte in der Dunkelheit herum, gerade außerhalb seines Gesichtskreises. Er konzentrierte sich und versuchte, etwas aus den Geräuschen des wiederauflebenden Windes herauszuhören, während er hilflos in die Dunkelheit starrte. Schließlich kam er zu dem Schluss, Opfer seiner Einbildung geworden zu sein. Er drehte sich um und richtete den Lichtstrahl auf ein Gittereisen. Dann richtete er sich auf und trat einen Schritt zurück, wobei er mit dem Fuß an einem aus dem Boden ragenden Stück Holz hängenblieb. Er stolperte, die Lampe entglitt seiner Hand, der Lichtstrahl huschte über den nassen Boden, und etwas Weißes tauchte in ihm auf. Ein Stein oder ein Plastikbecher. Page beugte sich schnell nach unten und hob die Lampe auf. Er ging zu dem Ding hinüber und kniete sich hin. Sein Atem stockte. Aus dem Boden ragte eine menschliche Hand.
Bei Sonnenaufgang hatten sie die letzte Leiche ausgegraben. Der Horizont hatte sich blutrot verfärbt, als zwei Polizisten den Körper auf eine Tragbahre legten. Um sie herum suchten weitere Polizisten vorsichtig das Gelände nach weiteren Gräbern ab, doch die Baugrube war schon so genau inspiziert worden, dass niemand erwartete, noch weitere Leichen zu finden.
Ein Streifenwagen stand oben am Rand der Baugrube. Die Tür auf der Fahrerseite war offen. Alan Page saß auf dem Sitz, einen Fuß neben dem Wagen auf den Boden gestellt, in der Hand einen Plastikbecher mit schwarzem Kaffee. Er versuchte, nicht an Nancy Gordon zu denken, aber es gelang ihm nicht.
Page legte den Kopf an die Rückenlehne. Im aufkommenden Licht des Tages gewann der Fluss an Dimensionen. Page beobachtete, wie das flache, schwarze Band in der Morgenröte Konturen bekam. Er war davon überzeugt, dass Nancy dort unten unter Massen von Schlamm begraben war, und fragte sich, ob er etwas hätte tun können, um sie davor zu bewahren. Er stellte sich Nancys Wut und Enttäuschung vor, als sie von dem Mann getötet wurde, den zu fassen sie sich geschworen hatte.
Der Regen hatte aufgehört, kurz nachdem der erste Streifenwagen erschienen war. Ross Barrow hatte die Aufsicht über den Tatort übernommen, nachdem er sich mit den Leuten von der Spurensicherung beraten hatte, wie die Sache am besten zu behandeln sei. Vom Rand der Baugrube beleuchteten Flutlichter die Arbeiter unten am Boden. Die einzelnen Untersuchungsbereiche waren mit gelbem Band abgegrenzt. Man hatte Absperrungen errichtet, um die Schaulustigen zurückzuhalten. Sobald Page davon überzeugt war, dass Barrow ohne ihn zurechtkam, waren er und Highsmith in ein nahegelegenes Restaurant gegangen, um eine Kleinigkeit zu essen. Als sie zurückkamen, hatte Barrow Wendy Reisers Leiche eindeutig identifiziert, und einer der Beamten hatte ein zweites Grab gefunden.
Durch die Windschutzscheibe beobachtete Page, wie Randy Highsmith auf den Wagen zu stapfte. Er hatte sich in der Baugrube umgesehen, während Page sich eine Pause gönnte.
»Das war jetzt die letzte«, sagte Highsmith.
»Wie viele haben wir?«
»Vier Leichen, drei davon sind eindeutig identifiziert. Laura Farrar, Wendy Reiser und Victoria Miller.«
»Wie sahen sie aus? Sind sie genauso zugerichtet wie Patricia Cross in Hunters Point?«
»So genau habe ich sie mir nicht angesehen, AI. Um die Wahrheit zu sagen, ich war nicht scharf darauf. Dr. Gregg ist da unten, sie kann Ihnen alles ganz genau sagen, wenn sie fertig ist.«
Page nickte. Er war an Leichen gewöhnt, aber das bedeutete nicht, dass es ihm Spaß machte, sie sich anzusehen. Wie Highsmith fürchtete auch er den Anblick.
»Was ist mit der vierten Frau?« fragte Page zögernd. »Könnte es Nancy Gordon sein?«
»Es ist keine Frau, AI.«
»Wie bitte?“
»Es ist ein Mann, ebenfalls nackt. Drei Finger wurden ihm abgeschnitten, sein Gesicht und die restlichen Fingerkuppen sind mit Säure weggeätzt. Wir werden viel Glück brauchen, um ihn identifizieren zu können.«
Page sah Ross Barrow durch den Schlamm stapfen und stieg aus dem Wagen.
»Hören Sie schon auf, Ross?«
»Da unten gibt's nichts mehr. Sie können es sich ansehen, wenn Sie wollen.«
»Ich war sicher, dass Nancy Gordon... Es ergibt keinen Sinn. Sie hat sich diese Adresse notiert.«
»Vielleicht hat sie sich hier mit jemandem getroffen, und sie sind dann zusammen weggefahren«, gab Barrow zu bedenken.
»Es gibt keine Fußspuren«, erinnerte ihn Highsmith. »Vielleicht hat sie den Weg nicht gefunden.«
»Haben Sie irgendwas dort unten gesehen, was uns einen Hinweis auf den Täter gibt?«
»Nichts, AI. Ich nehme an, alle vier sind woanders umgebracht und dann hierher transportiert worden.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Bei einigen der Leichen fehlen Organe. Die haben wir nicht gefunden, auch keine Knochensplitter oder Fleischstücke. Niemand kann den Platz so sauber aufgeräumt haben.«
»Glauben Sie, dass wir genug haben, um Darius zu verhaften?« wollte Page von Highsmith wissen.
»Nicht ohne Nancy Gordon oder ein paar klare Beweise aus Hunters Point.«
»Was ist, wenn wir sie nicht finden?« fragte Page ängstlich.
»Im Zweifelsfall können Sie beschwören, was Nancy Ihnen erzählt hat. Damit kriegen wir vielleicht einen Haftbefehl. Sie ist bei der Polizei; sie ist glaubwürdig, aber ich weiß nicht recht. In dieser Sache sollten wir nichts überstürzen.«
»Und wir haben auch keinen Hinweis auf eine direkte Beziehung zwischen Darius und den Opfern«, ergänzte Barrow. »Dass wir sie auf einem Baugelände des Darius Bauunternehmens gefunden haben, beweist gar nichts. Besonders, da es verlassen ist und jeder hinein konnte.“
»Ist inzwischen sicher, dass Darius und Lake ein- und dieselbe Person sind?« fragte Page Barrow.
»Ja, die Fingerabdrücke stimmen überein.«
»Na, das ist doch schon etwas«, warf Highsmith ein. »Wenn wir feststellen, dass die Reifenabdrücke zu einem von Darius' Wagen passen...«
»Und wenn wir Nancy Gordon finden«, fügte Page hinzu und starrte in die Baugrube. Verzweifelt wünschte er sich, dass Nancy am Leben sei, aber er war schon zu lange im Geschäft der brutalen Morde und vergeblichen Hoffnungen, als dass er sich an einen Strohhalm klammern würde.